Die Begeisterung im Saal war groß und auch die brasilianische und internationale Presse haben Parteiwechsel Silvas umfassend gewürdigt. Ihr Eintritt in die PV wird als erster Schritt für eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr gesehen.
Der Senatorin ist es nicht leicht gefallen, nach dreißig Jahren die Arbeiterpartei (PT) des Präsidenten Lula zu verlassen. Sie gehört zur Gründungsorganisation und zu den Repräsentanten des Ursprungsmythos der Partei: In Armut und Isolation geboren, wird sie erst mit vierzehn Jahren alphabetisiert und beginnt dann eine steile Karriere, die sie von kirchlichen Basisgruppen bis zum Ministeramt führt. Die Parallelen zur Vita Lulas sind unübersehbar. Aber anders als Lula repräsentierte Marina Silva immer eher Randthemen der Arbeiterpartei und dann der Regierung Lula: Amazonien und Umwelt.
Ihre Ernennung zur Ministerin bei Antritt der Regierung Lula zeigt noch den Wunsch, in ein neues nationales Projekt alle Strömungen der Partei und der sozialen Bewegungen Brasiliens einzubeziehen. Spätestens mit dem Rücktritt Silvas als Umweltministerin im Jahre 2008 war klar, dass die offen deklarierte Wachstumsbesessenheit der Regierung Umweltanliegen nur noch als Entwicklungshindernis wahrnimmt. Die Wahl der ehemaligen Energieministerin Dilma Rousseff als Kandidatin für die Nachfolge Lulas symbolisiert deutlich die Prioritäten der Regierung. Rousseff ist Koordinatorin des Programms zur Beschleunigung des Wachstums und eine ungebrochene Gläubige des Fortschritts.
In die politische Landschaft Brasiliens bringt Silva nun eine neue Dimension ein: Während sich Opposition und Regierung nur darum streiten, wer besser für Wachstum und die Armen sorgt, thematisiert sie die Bedeutung von ökologischer Nachhaltigkeit für Entwicklungsstrategien. So sind sich auch alle Kommentatoren einig, dass Marina Silva zumindest für eine Belebung des Wahlkampfes sorgen kann. Umstrittener ist schon die Frage, ob sie ein wirkliches Problem für die Kandidatur Rousseffs darstellt und somit zu einem politischen Faktor im Wahlkampf werden kann. Die Arbeiterpartei (PT) schießt sich schon auf die Argumentation ein, dass Silva das Spiel “der Rechten” betreibe und damit dem wahrscheinlichen Oppositionskandidaten José Serra in die Hände spielt. Manche glauben sogar, die Kandidatur sei ein abgekartetes Spiel, ausgedacht von Serra, der in São Paulo zusammen mit der Grünen Partei (PV) regiert.
Solch Erklärungen und Argumentation unterschätzen das Gewicht der Themen und symbolischen Felder, die Marina Silva besetzt. Ihre Kandidatur gewinnt nicht nur Kraft durch Umweltbelange. Sie verkörpert auch die Tradition der PT, die eine neue, ethisch orientierte Partei sein wollte und sich nun nach vielen Regierungsjahren und noch mehr Skandalen einer deutlichen Glaubwürdigkeitskrise ausgesetzt sieht. Das symbolische Kapital der PT ist aufgebraucht, Marina Silva ist nun die einzige Figur im Wahlkampf, die glaubwürdig für so etwas wie Ethik in der Politik steht.
Kann Silva die Grüne Partei neu erfinden?
Aber hier beginnen auch die Probleme und Widersprüche, denn Silva will und muss ja im Rahmen des politischen Systems agieren. Die Grüne Partei Brasiliens, der sie nun beitritt, ist eher durch die Widersprüche des politischen Systems gekennzeichnet, als dass sie denn bis jetzt eine Alternative zu ihm darstellen würde. In den Reihen der Partei, die zur Zeit 14 Abgeordnete (alles Männer) im nationalen Parlament stellt, finden sich Politiker, die lediglich aus wahlarithmetischen Gründen der Partei beigetreten sind, nicht weil sie für grüne Inhalte stehen. Der Abgeordnete Ciro Pedroso etwa will Brasilien zu eine Atommacht ausbauen, mit neuen Atomkraftwerken und eifrigem Export von angereichertem Uran; Lindoma Garçon (Kellner) setzt sich für Großstaudämme in Amazonien ein; ein anderer will Teile des Regenwaldes durch Agrotreibstoffe ersetzen. Alfredo Sirkis, einer der Gründer der Partei, gibt diese Schwierigkeiten zu (es sei nicht die Partei der Träume), “aber die Hälfte sind Grüne. Und in Umweltfragen haben wir immer geschlossen abgestimmt. Aber wir werden geschlossener. Wer nicht mitzieht, wird ausgeschlossen”.
Marina Silva hat sogar von einer Neugründung der Grünen Partei gesprochen, und eine der spannenden Frage der nächsten Monate wird sein, ob ihr Beitritt die jetzigen heterogenen Grünen in eine wirklich ökologische und umfassend politikfähige Partei verwandeln kann. Eine Kommission von 21 Personen soll ein neues Programm erarbeiten, und Marina Silva konnte zehn Personen ihres Vertrauens ernennen. Eine programmatische Erneuerung ist sicherlich leichter zu bewerkstelligen als eine personelle. Mit Silva sind zwar einige Persönlichkeiten und Vertreter von Umwelt-NGOs in die Partei eingetreten, aber von einer Beitrittswelle ist noch nichts zu sehen, viele wollen zwar ihre Kandidatur unterstützen, aber nicht in die PV gehen.
Die Aussicht auf die Kandidatur Silvas für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr hat insbesondere die Mittelschicht und die Intellektuellen Brasiliens wachgerufen. Leonardo Boff etwa hat Marina Silva zu einer neuen Hoffnungsträgerin stilisiert. Anders als die Grüne Partei hat sie vielfältige Verbindungen zu den sozialen Bewegungen Brasiliens. Durch ihre religiöse Bindungen erfährt ihre Kandidatur auch Unterstützung in neuevangelischen Gruppen (denen sie jetzt angehört), aber auch in der katholischen Basisbewegung. Das politische Beben, das die Kandidatur auslöst, geht weit über die PV hinaus. Es muss sich nun zeigen, ob diese Anfangssympathie zu einer neuen politischen Strömung beitragen kann, die die Kandidatur und Themen Marina Silvas weit über den Einflussbereich der PV tragen.
Die dramatische Krise des politischen Systems Brasiliens mit der Parteien, erschüttert durch nicht enden wollenden Skandale, öffnen den Raum für eine solche Kandidatur am Rande des Systems, die durch eine Bewegung der Gesellschaft und insbesondere der Jungwähler wachsen kann. So kann man zumindest die Hoffnung von vielen zusammenfassen, die sich durch Silva angesprochen fühlen.
Dr. Thomas Fatheuer ist Büroleiter des Büros Brasilien der Heinrich-Böll-Stiftung.
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Ist Marina Silva eine Kreationistin?
Silvas religiöse Überzeugungen haben zu ersten heftigen Kontroversen über ihre Person geführt. Marina Silva ist vor einigen Jahren in die pfingstkirchliche Gruppe Assembleia de Deus eingetreten. Die Gemeinde Gottes (KdöR) ist eine der größten pfingstkirchlich charismatischen Kirchen der Welt. Angeblich soll Marina nun im Rahmen ihrer religiösen Überzeugungen den Unterricht des Kreationismus in den Schulen verteidigt haben. Marina selbst erklärt dazu in einem Interview in der Folha de São Paulo: “Ein junger Teilnehmer (eines Adventistenkongresses, Anmerkung des Autors) fragte mich, was ich davon halte, dass in den Schulen der Adventisten der Kreationismus gelehrt wird. Ich antwortete, dass ich darin kein Problem sehe, wenn sie auch die Evolutionslehre lehren. Ich bin Lehrerin, ich habe nie diese These verteidigt und betrachte mich nicht als Kreationistin”.Es ist bemerkenswert, wie daraus in Presse und Blogs das Mantra gemacht wird, Marina Silva wolle den Kreationismus an Schulen lehren. Keine Erfindung der Presse ist allerdings die ihre radikale Ablehnung der Abtreibung. Aber das unterscheidet sie nicht von der Mehrheit der brasilianischen PolitikerInnen — und dies gilt auch für die PT.